Vom Licht der Welt
Ein spanisches Volksmärchen
Es war einmal eine Witwe, die hatte auf der ganzen Welt
nichts als sieben Söhne. Sie waren arm, und Hunger und Not waren ihre steten
Begleiter. Sie zogen von Dorf zu Dorf und baten um Arbeit, und wenn sie keine
fanden, so hungerten sie und schliefen unter freiem Himmel. Eines Abends kamen
sie in ein Dorf und baten überall vergebens um ein Stück Brot und ein
Nachtlager. Alle schickten sie weg, sie sollten es ein Haus weiter versuchen
oder am besten im Gutshaus hinterm Dorf übernachten, dort sei Platz genug.
"Also gehen wir dorthin", entschied schließlich
der älteste der Söhne, und sie machten sich auf den Weg. Das Gut lag etwas
abseits vom Dorf und sah von weitem wie ein Schloss aus. Aber es war ein
trauriges Schloss. In den Fenstern zeigte sich kein einziges Gesicht, auf dem
Hof bellte kein einziger Hund, im Garten sang kein einziger Vogel. Das Haus lag
leer und verlassen da wie nach der Pest. Und das war kein Wunder, denn seit
vielen Jahren spukte es dort. Jeder machte einen großen Bogen um das Gut, und
wer es dennoch wagte und über Nacht dort einkehrte, der lief am Morgen entsetzt
davon und ließ sich nie wieder sehen.
Die arme Witwe hatte auch schon davon gehört, aber was
sollte sie tun, wenn man sie überall abwies und bereits die Nacht hereinbrach?
"Was soll uns schon passieren", sagte der älteste Sohn. "Noch
schlimmer, als es uns jetzt geht, kann es uns gar nicht gehen." "Da
hast du recht, mein Sohn", antwortete die Witwe und klopfte an die Tür.
Niemand antwortete, nur die Tür knarrte in den Angeln, als sie sich von ganz
allein öffnete.
Der Älteste trat mutig ein, und die anderen folgten ihm.
Sie kamen in einen großen Saal, und obwohl das Haus seit Jahren verlassen war,
sah es dennoch aus, als würden sie erwartet. Mitten im Saal stand ein großer
Tisch mit acht Stühlen, acht Tellern und acht Gläsern. Auf dem Wandbrett lag
ein Laib Brot und daneben stand eine Flasche Wein, und vor dem Kamin in der
Ecke lag schon Holz aufgestapelt.
Die Jungen waren nicht faul, sie machten Feuer, schnitten
sich jeder eine Scheibe Brot ab, schenkten sich Wein ein und setzten sich mit
der Mutter an den Tisch. Kaum aber hatten sie in das Brot gebissen, da ertönte
aus der Tiefe des Hauses eine Stimme, so klagend und so schrecklich, dass ihnen
das Blut in den Adern gerann. Die Stimme rief: "Licht! Licht!"
Zunächst saßen die Jungen wie versteinert da, dann aber
fasste sich der Älteste. Er sprang auf, nahm einen Kienspan, zündete ihn im
Kamin an und sagte: "Ich gehe nachsehen, wer da so jammert."
"Und wir gehen mit dir", meinten die Brüder, die ihn nicht im Stich
lassen wollten. Sie durchschritten einen Saal nach dem anderen, aber alle waren
leer, nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Nur die Stimme kam immer näher
und bat: "Licht! Licht!"
So waren die Jungen durch das ganze Haus gegangen und kamen
schließlich in den letzten Raum. In der Tür blieben sie furchtsam stehen: In
einer Ecke des Saales saß in einem Sessel ein uralter Greis, gelb wie ein
Wachskerze. Über die Schulter hatte er einen grünen Umhang geworfen, und der
weiße Bart hing bis zur Erde herab. Auf der Wand hinter dem Alten waren
magische Zeichen gemalt und Katzen mit funkelnden Augen und Teufel mit feurigen
Mäulern. Und auf den Knien hielt der Alte ein offenes Buch, als wolle er lesen.
Der Greis jammerte: "Licht! Licht!" Natürlich
waren die Jungen erschrocken. Am liebsten hätten sie sich umgedreht und wären
davongelaufen. Doch ihr Mitleid war größer als ihre Furcht. Der älteste Bruder
trat näher und hielt seinen Kienspan über das Buch. "Hier ist Licht!"
Der Greis hob den Kopf, schaute den Jungen an und begann wortlos zu lesen. Er
las so schnell, dass er kaum die Seiten umblättern konnte, als hätte er Angst,
der Span könne abbrennen, ehe er zu Ende gelesen habe.
Als er die letzte Seite umgeschlagen hatte, seufzte er tief
auf und sagte: "Ich danke euch, ihr habt mich erlöst. Zu Lebzeiten hatte
ich mit niemandem Erbarmen, und so wurde ich nach dem Tode verdammt, nicht eher
Ruhe zu finden, bis jemand mit mir Erbarmen hat und mir leuchtet. Erst wenn das
Buch ausgelesen war, sollte meine Seele Ruhe finden. Ihr habt mir Licht
gebracht, und ich kann nun ruhig schlafen bis zum Jüngsten Tag. Dafür sollt ihr
belohnt werden. Ich vermache euch dieses Haus und dazu noch sieben Krüge voller
Goldstücke, die im Keller vergraben sind. Nutzt sie zum Guten und lebet
wohl!"
Bei den letzten Worten erlosch der Span, und der Alte mit
dem Buch löste sich in Nichts auf wie ein Traum. Aber es war kein Traum
gewesen. Als die Brüder am Morgen im Keller gruben, fanden sie tatsächlich
unter dem Fußboden sieben Krüge mit Goldstücken. Seit der Zeit brauchten die
Witwe und ihre Söhne nie mehr Not zu leiden. Bis zu ihrem Tode lebten sie
zufrieden und in Wohlstand in dem großen Haus. Und bis zu ihrem Tode gedachten
sie voll Dankbarkeit des Greises, der ihnen das alles geschenkt hatte für ein
wenig Licht, für ein wenig menschliches Mitgefühl.